Der Unterschied zwischen Wissen und Verstehen
-von Aldous Huxley
Wissen wird erworben, wenn es uns gelingt, eine neue Erfahrung in das System der Konzepte einzuordnen, das auf unseren alten Erfahrungen beruht. Verstehen entsteht, wenn wir uns vom Alten befreien und so einen direkten, unmittelbaren Kontakt mit dem Neuen, dem Mysterium unserer Existenz, Augenblick für Augenblick, ermöglichen.
Verstehen ist nicht konzeptionell und kann daher nicht weitergegeben werden. Es ist eine unmittelbare Erfahrung, und über unmittelbare Erfahrungen kann man nur (sehr unzureichend) sprechen, sie niemals teilen. Niemand kann den Schmerz oder die Trauer eines anderen, die Liebe, die Freude oder den Hunger eines anderen wirklich spüren. Und ebenso kann niemand das Verständnis eines anderen für ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Situation erfahren... Wir müssen immer daran denken, dass das Wissen um das Verstehen nicht dasselbe ist wie das Verstehen, das das Rohmaterial dieses Wissens ist. Es ist vom Verstehen so verschieden wie sich das ärztliche Rezept für Penicillin vom Penicillin selbst unterscheidet.
Verstehen wird nicht vererbt und kann auch nicht mühsam erworben werden. Es ist etwas, das uns, wenn die Umstände günstig sind, sozusagen von selbst zuteil wird. Wir alle sind ständig Wissende; nur gelegentlich und trotz unserer selbst verstehen wir das Geheimnis der gegebenen Wirklichkeit.
Diese Entdeckung mag zunächst etwas demütigend und sogar deprimierend erscheinen. Aber wenn ich sie von ganzem Herzen akzeptiere, werden die Tatsachen zu einer Quelle des Friedens, zu einem Grund für Gelassenheit und Heiterkeit.
In meiner Unwissenheit bin ich sicher, dass ich ewig ich bin. Diese Überzeugung wurzelt in einer gefühlsbetonten Erinnerung. Nur wenn die Erinnerung, wie der heilige Johannes vom Kreuz es ausdrückt, geleert ist, kann ich dem Gefühl meiner wasserdichten Getrenntheit entkommen und mich so darauf vorbereiten, die Wirklichkeit auf all ihren Ebenen von Augenblick zu Augenblick zu verstehen. Aber die Erinnerung kann nicht durch einen Willensakt, durch systematische Disziplin oder durch Konzentration geleert werden - auch nicht durch Konzentration auf die Idee der Leerheit. Sie kann nur durch totales Bewusstwerden geleert werden. Wenn ich mir also meiner Ablenkungen bewusst bin - bei denen es sich zumeist um emotional aufgeladene Erinnerungen oder um Fantasien handelt, die auf solchen Erinnerungen beruhen -, kommt das geistige Wirbeln automatisch zum Stillstand und die Erinnerung wird geleert, zumindest für ein oder zwei Augenblicke. Wenn ich mir wiederum meines Neides, meines Grolls, meiner Lieblosigkeit völlig bewusst werde, werden diese Gefühle während der Zeit meines Bewusstseins durch eine realistischere Reaktion auf die Ereignisse, die um mich herum stattfinden, ersetzt. Mein Bewusstwerden muss natürlich unbelastet sein von Zustimmung oder Verurteilung. Werturteile sind konditionierte, verbalisierte Reaktionen auf primäre Reaktionen. Totales Gewahrsein ist eine primäre, wahllose, unparteiische Reaktion auf die gegenwärtige Situation als Ganzes.
Der gesunde Hausverstand basiert nicht auf vollständigem Bewusstsein; er ist ein Produkt von Konventionen oder organisierten Erinnerungen an die Worte anderer Leute, von persönlichen Erfahrungen, die durch Leidenschaft und Werturteile begrenzt sind, von geheiligten Vorstellungen und nacktem Eigeninteresse. Totales Gewahrsein öffnet den Weg zum Verstehen, und wenn eine gegebene Situation verstanden ist, wird die Natur der gesamten Realität offenbar, und die unsinnigen Äußerungen der Mystiker werden als wahr angesehen, oder zumindest als so wahr, wie es für einen verbalen Ausdruck des Unaussprechlichen möglich ist. Eins in allem und alles in einem; Samsara und Nirvana sind dasselbe; Vielheit ist Einheit, und Einheit ist nicht so sehr eins als vielmehr nicht-zwei; alle Dinge sind nichtig, und doch sind alle Dinge der Dharma - der Körper des Buddha - und so weiter. Soweit es sich um begriffliches Wissen handelt, sind solche Phrasen völlig bedeutungslos. Nur wenn es Verständnis gibt, machen sie Sinn. Denn wenn es Verständnis gibt, gibt es eine erfahrene Verschmelzung des Ziels mit den Mitteln, der Weisheit, die die zeitlose Erkenntnis des Seins ist, mit dem Mitgefühl, das Weisheit in Aktion ist.
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Kernfragen zum Nachdenken: Was verstehen Sie unter dem Unterschied zwischen Wissen und Verstehen? Können Sie eine persönliche Geschichte aus einer Zeit erzählen, in der Sie ein Bewusstsein hatten, das nicht durch Zustimmung oder Verurteilung belastet war? Was hilft Ihnen, Verständnis zu entwickeln?
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Aldous Leonard Huxley war ein englischer Schriftsteller und Philosoph. Er schrieb fast 50 Bücher - sowohl Romane als auch Sachbücher - sowie weitreichende Essays, Erzählungen und Gedichte.