Jetzt werde ich ich selbst
-von Mai Sarton
Jetzt werde ich ich selbst. Es hat
Zeit, viele Jahre und Orte gebraucht
Ich bin aufgelöst und erschüttert worden,
Hab anderer Menschen Gesichter aufgesetzt,
Gerannt wie verrückt, als ob die Zeit gekommen wäre,
Schrecklich alt, eine Warnung ausstoßend
"Beeil dich, sonst bist du vorher tot, ..."
(Was? Bevor der Morgen anbricht?
Oder bevor das Ende des Gedichts klar ist?
Oder die Liebe sicher ist in der befestigten Stadt?)
Jetzt stillzustehen, hier zu sein,
Mein eigenes Gewicht und meine eigene Dichte spüren!
Der schwarze Schatten auf dem Papier
Ist meine Hand; der Schatten eines Wortes
Wie der Gedanke den Denker formt
und schwer auf die Seite fällt, kann man hören.
Alles stimmt jetzt, alles fällt an seinen Platz
Vom Wunsch zur Tat, vom Wort zum Schweigen,
Meine Arbeit, meine Liebe, meine Zeit, mein Gesicht
Sammeln sich zu einer intensiven
Geste des Wachsens wie eine Pflanze.
So langsam wie die Frucht reift
Fruchtbar, getrennt und immer ausgegeben,
Fällt, aber zehrt die Wurzel nicht aus,
So wächst alles, was das Gedicht ist, geben kann,
in mir, um zum Lied zu werden,
So geschaffen und in der Liebe verwurzelt.
Jetzt ist die Zeit und die Zeit ist jung.
O, in dieser einen Stunde lebe ich
Ich ganz allein und bewege mich nicht.
Ich, die Verfolgte, die wie wahnsinnig rannte,
Stehen bleiben, stehen bleiben und die Sonne aufhalten!
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Kernfragen zum Nachdenken: Was hältst du von der Vorstellung, du selbst zu werden? Kannst du eine persönliche Geschichte aus einer Zeit erzählen, in der du dich mit deinem Lied "so gemacht und in Liebe verwurzelt" lebendig gefühlt hast? Was hilft dir, dich daran zu erinnern, dass du Zeit hast, zu leben und still zu sein?
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Mary Sarton war eine belgische Dichterin.