Um was zu finden, musst du nicht danach suchen
-von Robin Wall Kimmerer
Zwischen Start und Landung sind wir alle in einem Schwebezustand, einer Pause zwischen den Kapiteln unseres Lebens. Wenn wir aus dem Fenster in das grelle Sonnenlicht starren, ist die Landschaft nur eine flache Projektion mit Bergketten, die zu Falten in der kontinentalen Haut reduziert sind. Wir sind uns unseres Durchgangs über uns bewusst, doch unter uns entfalten sich andere Geschichten. Brombeeren reifen in der Augustsonne; eine Frau packt einen Koffer und zögert vor ihrer Tür; ein Brief wird geöffnet und das überraschendste Foto schlüpft zwischen den Seiten hervor. Aber wir bewegen uns zu schnell und wir sind zu weit weg; alle Geschichten entgehen uns, außer unserer eigenen.
Wir armen kurzsichtigen Menschen haben weder die Gabe des Raubvogels, auf weite Entfernungen scharf zu sehen, noch die Talente einer Stubenfliege für das Panoramasehen. Aber mit unseren großen Gehirnen sind wir uns zumindest der Grenzen unserer Wahrnehmung bewusst. Mit einem gewissen Grad an Bescheidenheit, der bei unserer Spezies selten vorkommt, gestehen wir ein, dass es vieles gibt, was wir nicht sehen können, und erfinden deshalb bemerkenswerte Methoden, um die Welt zu beobachten. Infrarot-Satellitenbilder, optische Teleskope und das Hubble-Weltraumteleskop bringen Weite in unseren Wahrnehmungsbereich. Elektronenmikroskope lassen uns durch das ferne Universum unserer eigenen Zellen wandern.
Aber auf der mittleren Skala des freien Auges, scheinen unsere Sinne seltsam beeinträchtigt zu sein. Mit hochentwickelter Technik versuchen wir zu sehen, was außerhalb von uns liegt, sind aber oft blind für die unzähligen funkelnden Facetten, die so greifbar nahe liegen. Wir denken, wir sehen, wenn wir nur an der Oberfläche gekratzt haben. Unsere Sehschärfe auf dieser mittleren Skala scheint vermindert zu sein, nicht durch ein Versagen der Augen, sondern durch die mangelnde Bereitschaft des Geistes. Hat die Kraft unserer Geräte dazu geführt, dass wir unseren Augen ohne Hilfsmittel misstrauen? Oder sind wir ablehnend gegenüber dem geworden, wofür keine Technologie, sondern nur Zeit und Geduld zur Erkenntnis erforderlich sind. Achtsamkeit allein kann es mit der stärksten Vergrößerungslinse aufnehmen.
Ein Cheyenne-Ältester in meinem Bekanntenkreis sagte mir einmal, dass die beste Art, etwas zu finden, nicht darin besteht, danach zu suchen. Das ist ein schwieriges Konzept für einen Wissenschaftler. Aber er sagte, man solle aus den Augenwinkeln heraus blicken, sich öffnen für verschiedenste Möglichkeiten, und das, was man sucht, wird sich offenbaren. Die Offenbarung, plötzlich das zu sehen, wofür ich wenige Augenblicke zuvor blind war, ist für mich eine erhabene Erfahrung. Ich kann in der Erinnerung an diese Momente immer noch die Welle der Ausdehnung spüren. Die Grenzen zwischen meiner Welt und der Welt eines anderen Wesens werden mit plötzlicher Klarheit zurückgedrängt - eine Erfahrung, die mich sowohl mit Demut als auch mit Freude erfüllt.
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Kernfragen zum Nachdenken: Was hältst du von der Vorstellung, dass der beste Weg, etwas zu finden, nicht darin besteht, danach zu suchen? Kannst du eine persönliche Geschichte über eine Zeit erzählen, in der du die erhabene Erfahrung einer Offenbarung gemacht hast, indem du offen für viele Möglichkeiten bist? Was hilft dir dabei, für verschiedene Möglichkeiten offen zu bleiben?
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Robin Wall Kimmerer ist Botaniker und Dichter. Die obigen Auszüge sind aus ihrem Buch: Sammeln von Moos: Eine Natur- und Kulturgeschichte der Moose