Die neue und alte Geschichte der Gemeinschaft (interbeing)
-von Charles Eisenstein
Warum scheint die Sonne? Ein zufälliges Ergebnis der Verschmelzung von Gasen, die die Kernfusion entzünden? Oder geht es darum, dem Leben Licht und Wärme zu geben? Warum regnet es? Ist der Regen das sinnlose Produkt blinder chemischer Prozesse der Verdampfung und Kondensation? Oder ist er da, um das Leben zu nähren? Warum wollt ihr euer Lied singen? Geht es darum, eure genetische Fitness zu zeigen, um einen Gefährten anzuziehen, oder singt ihr, um zu einer schöneren Welt beizutragen? Wir mögen diese ersten Antworten fürchten, aber es ist die zweite, die den Ring der Wahrheit trägt.
Jede Kultur hat, soweit ich weiß, etwas, das ich eine Geschichte der Welt nenne. Diese Geschichte ist ein Geflecht aus Mythen, Deutungen, Erzählungen, Wörtern, Symbolen, Ritualen und Vereinbarungen, die gemeinsam die Welt definieren. Diese Geschichte erzählt uns, wer wir sind, wie wir ein Mann oder eine Frau sein können, was wichtig und wertvoll ist, was real ist, was heilig ist, welche Rolle und welchen Zweck die Menschheit auf Erden hat.
Die vorherrschende Kultur der Welt, die so genannte Moderne, erzählt auch eine Geschichte der Welt. Ich nenne es die Geschichte der Trennung. Es ist die Geschichte, die uns als getrennte Individuen und die Menschheit als von der Natur getrennt betrachtet. Hier kommt das Geben nicht von selbst. Tatsächlich sagt diese Geschichte, dass unsere vorgegebene Natur bis hin zur genetischen Ebene von Egoismus beherrscht wird. Wenn ich von dir getrennt bin, dann bedeutet mehr für mich auch weniger für dich.
In der Geschichte der Trennung kommt Vertrauen auch nicht von selbst. Die Welt ist unser Gegner, voll von anderen konkurrierenden Einzelwesen, Menschen, Tieren und anderen, die wir überwinden müssen, um ein gutes Leben zu führen - Unkraut, Krankheitserreger, die Russen, was auch immer. Darüber hinaus sind auch die Naturkräfte Gegner, weil sie völlig zufällig sind und das ganze Universum zur Entropie neigt. Es gibt keine Intelligenz oder Absicht außerhalb von uns selbst. Um eine komfortable menschliche Wohnform in der Welt zu schaffen, müssen wir diese Kräfte beherrschen und kontrollieren, uns von ihnen isolieren und sie für unsere Zwecke nutzen. Das behauptet die Geschichte der Trennung.
Wo ist in dieser Geschichte Platz für Dankbarkeit? Wo ist Platz für Geschenke? In der Geschichte der Trennung musst du dich im Grunde genommen über die menschliche Natur erheben, dich über das Grundprinzip der Welt, selbstlos, großzügig oder altruistisch zu sein, hinwegsetzen. Ein guter Mensch zu werden, bedeutet in diesem Fall eine Art Eroberung, eine Eroberung des Selbst. Es ist die gleiche Dominanz über die Natur, diesmal auf sich selbst gerichtet.
Nun muss ich sagen, diese Geschichte wird schnell obsolet. Selbst seine wissenschaftliche Dimension in Genetik, Physik und Biologie bricht zusammen. In der Komplexitätstheorie verstehen wir, dass Ordnung spontan aus dem Chaos heraus entstehen kann, ohne eine externe Organisationskraft. In der Ökologie erkennen wir, dass das Wohlbefinden des Einzelnen untrennbar mit dem Wohlbefinden aller verbunden ist. Lassen Sie mich also über Geschenk, Großzügigkeit und Dankbarkeit aus der Perspektive einer anderen Geschichte sprechen, einer neuen und alten Geschichte, die ich gerne als Gemeinschaft bezeichne.
In der Geschichte der Gemeinschaft ist das Leben ein Geschenk. Die Welt und alles darin ist ein Geschenk. Wir haben unser Leben nicht verdient. Wir haben die Sonne nicht verdient; sie scheint nicht dank unserer harten Bemühungen. Wir haben nicht die Fähigkeit der Pflanzen zum Wachsen erworben. Wir haben kein Wasser verdient. Wir haben weder unsere Vorstellung noch unseren Atem verdient. Unsere Herzen schlagen und unsere Leber arbeitet ganz von selbst. Das Leben ist ein Geschenk.
Kernfragen für die Reflexion: Was hältst du von dem Begriff der "Gemeinschaft"? Kannst du eine persönliche Erfahrung erzählen, in der du das Gefühl hattest, dass die Welt und alles darin ein Geschenk ist? Was hilft dir, in Dankbarkeit für das Leben zu leben?
Anm. der Übersetzerin: Ich habe mich entschieden, den Begriff ‚interbeing’ nach verschiedenen Versuchen (Zusammensein, Beisammensein, Wohlbefinden, zwischenmenschliches Sein) frei als ‚Gemeinschaft’ zu übersetzen, wo das ‚mein’ aufgeht in der Gruppe und allen zur Verfügung steht.